. . . ist jetzt seit gut 50 Tagen im Amt. In einem Amt, das drei Jahrzehnte einen anderen Chef hatte, immer denselben. Wenn das mal keine Herausforderung ist für den neuen Chef, zumal er seinen Vorgänger zwar ganz legal per Wahl, aber eben doch aus dem Amt gedrängt hat.

Für die Alten, die Mitarbeiter*innen, ist das natürlich ebenfalls eine echte Herausforderung, haben sie sich doch drei Jahrzehnte an diesen ehemaligen Chef gewöhnt.

Also alles in allem: Eine gruppendynamisch echt prickelnde Situation.

Foto + Fotomontage: P.Gläser

Niklas Luhmann, ein deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, hat sich in einem kleinen Aufsatz in der juristischen Fachzeitschrift »Verwaltungsarchiv“ schon 1962 darüber soziodynamische Gedanken gemacht. Im Magazin brandeins fand ich daraus einen Auszug, übersetzt in „Leichte Sprache„, eine „Ausdrucksweise, die auf die besonders leichte Verständlichkeit abzielt“ (Quelle: Wikipedia).

„Leichte Sprache nimmt den Inhalt ernst, aber nicht schwer. Das kann erhellend sein“ schreibt brandeins. Wie erhellend das sein kann, liebe Leserinnen und Leser, das können Sie am nachfolgenden Text unschwer nachvollziehen:

Ein Beamter ist ein Arbeiter für den Staat.
Manchmal kriegen Beamte einen neuen Chef.
Das ist aufregend für Beamte.
Sonst ist die Arbeit für Beamte fast nie aufregend.

Manchmal kommt der neue Chef aus einer anderen Firma.
Dann ist er ein Fremder für die Kollegen.
Der neue Chef bringt dann seine eigenen Ideen mit.
Die Ideen hat er sich alleine ausgedacht.
Und nicht mit den neuen Kollegen zusammen.
Er kennt noch nicht alle Regeln in der neuen Firma.
Für den Chef sind alle Kollegen und die Firma neu.
Für die Firma und die Kollegen ist nur der Chef neu.
Für den neuen Chef ändert sich viel mehr.
Darum kann er sich besser Neues in der Firma vorstellen.
Das kann Ärger geben.
Wahrscheinlich macht der Chef was Neues in der Firma.
Dann denkt er: Das ist alles mein Erfolg.

Am Anfang reden alle wenig mit dem neuen Chef.
Sie reden dann nur über die Arbeit.
Vielleicht sind manche Kollegen auch besonders nett.
Denn der neue Chef soll sie mögen.
Am Anfang sind die Gespräche einfach.
Keiner sagt dem neuen Chef:
– Das wollen wir von dir.
– Und das kannst du von uns kriegen.
Der neue Chef hat dann zwei Möglichkeiten:
Erstens: Er kann streng sein.
Manche Kollegen machen nicht was er sagt.
Die kriegen dann Ärger mit ihm.
Zweitens: Er kann neue Kollegen holen.
Dann hat er Freunde um sich.
Die neuen Kollegen machen was er sagt.
Die können ihm dann in der Firma helfen.

Es gibt in einer Firma immer wieder neue Chefs.
Das ist anstrengend aber es geht vorbei.

Da bleibt zu hoffen, dass möglichst alle Protagonisten sich dieses „soziodynamischen Prozesses“ bewusst sind und zum Wohl der Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger auch entsprechend emotionsarm und abgeklärt damit umgehen.

Hoffnungsvoll, Ihr Peter Gläser

Nachtrag 1

Für Interessierte hier noch der Originaltext der oben in „Leichte Sprache“ übersetzten Auzüge aus dem Aufsatz „Der neue Chef“ von Niklas Luhmann, erschienen in der juristischen Fachzeitschrift »Verwaltungsarchiv« Nr. 53 aus dem Jahr 1962:

Der Alltag ist für den Beamten geregelt. (…) Hin und wieder bekommt eine Behörde (…) einen neuen Chef. Der Wechsel des Vorgesetzten gehört zu den wenigen aufregenden Ereignissen im Verwaltungsalltag. (…) Wer von außen kommt, ist zunächst ein Fremder und muss seinen Start auf die Rolle als Fremder gründen. (…) Er bringt Einstellungen und Erwartungen mit, die nicht unter sozialer Kontrolle der Gruppe gebildet sind. Er ist relativ frei, objektiver und abstrakter ausgerichtet und nicht durch die eigenen Vorentscheidungen gebunden. Für ihn ist die Gesamtsituation neu, und das heißt: unstrukturiert. Für seine Umgebung ändert sich lediglich ein Einzelmoment in ihrer Welt. Das ergibt typisch eine unterschiedliche Einstellung zu Neuerungen, die in sich Konfliktstoffe birgt. Ferner darf der neue Chef annehmen, dass alle Neuerungen als seine persönlichen Erfolge gebucht werden. (…) Das alles wird ihn zu Änderungen disponieren. (…) Fremdheit und mögliche Gegnerschaft beschränken die Kontakte zunächst aufs formal Vorgeschriebene und dienstlich Notwendige und eventuell auf Versuche, die Gunst des Neuen zu gewinnen. Die Kommunikationen sind daher nicht sehr gehaltvoll. Der Chef erhält typisch nicht die Informationen, die er zu einem informellen Regime braucht. Er erfährt nur, was er vermutlich schon weiß oder was auf dem Dienstwege zu ihm kommen muss, nicht aber, was von ihm erwartet wird und was er erwarten kann. (…) Dem Nachfolger bleibt die Möglichkeit, durch Betonung und Ausbau seiner formalen Kompetenzen zu reagieren, auf Durchführung der allgemeinen Regeln und gegebene Anordnungen zu achten und Widerstand durch Sanktionen zu brechen; oder er kann durch Umbesetzung oder Neueinrichtung wichtiger Posten sich eine Umgebung schaffen, zu der er Vertrauen hat und mit deren Hilfe er die Organisation in die Hand bekommt. (…) Dabei besteht wenig Gefahr, dass die Störung von Dauer ist, auch wenn sie sich chronisch wiederholt.“

Nachtrag 2

Niklas Luhmann hat zu diesem Trema auch ein Buch geschrieben: Der neue Chef – Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Kaube – Erschienen: 07.03.2016 – Gebunden, 120 Seiten – ISBN: 978-3-518-58682-2

Foto: Suhrkamp

Dort heißt es im Klappentext: „Jede Organisation, und sei sie noch so behäbig, erfährt eine gewisse Erschütterung durch die Nachricht, dass ein neuer Chef oder eine neue Chefin ins Haus steht. Flurgespräche häufen sich, mit Wissensvorsprüngen wird gepunktet, Ungewissheit liegt in der Luft. Aber auch nach vollzogenem Wechsel gibt es Probleme, etwa wenn der, der »von oben« überwachen soll, »von unten« angelernt werden muss. Kurzum: Die Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ist kompliziert.

Niklas Luhmann hat sie unter die soziologische Lupe genommen und zeigt, wodurch sie strapaziert wird: durch Kommunikationsschwierigkeiten und Selbstdarstellungsinteressen, Rollenfindungsprobleme und Wertvorstellungsdissonanzen. Der Schatten des Vorgängers kann lang, der Einfluss innerbetrieblicher Cliquen schwer zu durchbrechen sein. Und über allem schwebt die Frage: Wer hat die Macht? Es ist, soviel ist sicher, nicht per se der Chef – vorausgesetzt, so Luhmann, die Untergebenen beherrschen die Kunst, ihren Vorgesetzten zu lenken. »Unterwachung« ist sein Stichwort und Takt das wichtigste Mittel zum Zweck. Aber Vorsicht: Wer es darin zur Meisterschaft bringt, der wird nicht selten – der neue Chef.